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Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ)

 


Braunschweiger Drama am Zarenhof
St. Petersburg, 22. November Geschichtsforschung gleicht in Russland einer Reise ins Ungewisse. Das Stöbern in alten Akten kann sich schnell zu einer kriminologischen Untersuchung entwickeln. Nach sieben Jahrzehnten Sowjetideologie und der früheren Zarenherrschaft sind so manche Darstellungen in offiziellen Geschichtsbüchern mit Vorsicht zu genießen. Seit zehn Jahren sorgen Historiker immer wieder für Schlagzeilen, wenn sie altvertraute Erkenntnisse über die Geschichte des eigenen Landes über den Haufen werfen. Einer der Forscher, die die Fälschungen und Verdrehungen in den Geschichtsbüchern aufdecken, ist Dr. Leonid Lewin. Eigentlich ist der 57-Jährige Dozent für Bauwesen an der Universität in Orel. Doch sein Herz schlägt nicht nur für die Architektur der Gegenwart. Seit der politischen Wende erkundet er vor allem das geschichtliche Gerüst seiner Heimat. Hier will er aufräumen, freilegen und renovieren. Lewin ist Mitglied der "Russischen Gesellschaft zum Studium des 18. Jahrhunderts" und beschäftigt sich speziell mit den russisch-deutschen Beziehungen der damaligen Zeit. In den vergangenen Jahren widmete sich Lewin vor allem dem Schicksal von Prinz Anton Ulrich von Braunschweig- Wolfenbüttel. Einem Lebenslauf, der in sowjetischen Geschichtsbüchern nur mit wenigen Zeilen erwähnt wird und der eigentlich Stoff für einen Krimi bietet. Prinzen und Prinzessinnen aus Deutschland standen im 18.Jahrhundert am Zarenhof in St. Petersburg hoch im Kurs. Doch nicht alle Karrieren der Abkömmlinge deutscher Adelshäuser verliefen so glanzvoll, wie die von Sophie Friederike von Anhalt-Zerbst, die als junge Frau nach St. Petersburg kam, schnell die russische Sprache lernte und zur Zarin gekrönt wurde. Sie ging später als Katharina die Große in die Geschichte ein. St. Petersburg, das im nächsten Jahr 300 Jahre alt wird und mit seinem historischen Stadtzentrum heute Millionen von Touristen anzieht, war auch Schauplatz von brutalen Machtspielen und Intrigen. Das zeigt kaum ein Lebenslauf so eindrucksvoll wie der von Prinz Anton Ulrich. Der Mann aus dem Welfenhaus wurde Vater des Zaren Iwan VI. Antonowitsch - und verbrachte seine zweite Lebenshälfte hinter Gefängnismauern. Der stolze Prinz, der als 18-Jähriger von Wolfenbüttel in Richtung Russland aufbrach, wurde nach seinem Tod namenlos in einem Gefängnishof verscharrt. Seinen Kindern erging es noch schlechter: Zar Iwan VI. wurde als junger Mann in seiner Gefängniszelle von Wächtern umgebracht. Seine vier Geschwister wuchsen im Gefängnis auf und wurden im fortgeschrittenen Alter in eine dänische Provinzstadt ins Exil geschickt, die sie nicht verlassen durften. Sie allesamt blieben familien- und kinderlos. Von diesem tragischen Ende konnte Prinz Anton Ulrich nichts ahnen, als er im Februar 1733 nach stürmischer Fahrt durch den russischen Winter in St. Petersburg ankam - dem damaligen Florenz des Nordens. Auf Einladung der Zarin Anna Iwanowna diente er an ihrem Hof - und hatte von Anfang an beste Aussichten, ihre Nichte Anna Leopoldowna zu heiraten. Eine junge Frau, deren Kinder die Nachfolge auf dem russischen Thron antreten sollten. Der deutsche Prinz führte ein Leben voller Hoffnung, begleitet von üppigen Festen und Paraden. Der junge Mann aus Wolfenbüttel machte sich schon nach kurzer Zeit einen guten Namen am Zarenhof, als er in den Türkenkriegen auf russischer Seite unerschrocken kämpfte. Anton Ulrich wurde zum Generalissimus ernannt und hatte das Vertrauen der Zarin. Trotz allerlei Hindernisse kam er schließlich ans Ziel: Sein kleiner Sohn wurde als Iwan VI. Antonowitsch 1740 zum Zaren gekrönt. Iwan VI. war zwar noch ein Kind, doch entsprach er ganz den Regeln der russischen Thronfolge. Der junge Zar und seine Mutter Anna Leopoldowna als Regentin konnten sich allerdings nur ein Jahr an der Macht halten. Dann wurden sie von einem anderen Zweig der Familie Romanow gestürzt. Es war ein Putsch von wenigen hundert Soldaten im Petersburger Palast, der im Nachhinein von der Staatsführung als "patriotische Bewegung" gegen eine "deutsche Herrschaft" interpretiert wurde. Dokumente wurden gefälscht und neue Urkunden geschrieben, um sich und der Öffentlichkeit rückwirkend eine Rechtfertigung für den Umsturz zu geben. Zar Iwan VI. wurde samt seinen Eltern Anton Ulrich und Anna Leopoldowna in eine lebenslange Gefangenschaft geschickt. Es begann eine Odyssee durch einsame Klosteranlagen und - abgelegene Zitadellen, die Jahrzehnte dauern sollte. Mit aller Gewalt wurde ihr Aufenthaltsort geheim gehalten, um die Russen nicht an den rechtmäßigen Erben des Thrones zu erinnern und einen Gegenputsch zu verhindern. Sogar die Gefängniswächter durften kein Wort über ihre hochgestellten Gefangenen verlieren. Lebenslang einem Sonderbefehl unterstellt, fühlten sich diese Soldaten bald selbst wie Gefangene einer hochkarätigen Intrige. Akribisch hat Lewin nun sämtliche Korrespondenzen des Prinzen und seiner "Braunschweiger Familie" nachgearbeitet und ein spannendes Buch geschrieben, das ein ganz neues Licht auf die deutsch-russischen Geschichte wirft. Recherchiert hat der Wissenschaftler nicht nur in St. Petersburg und Moskau. Auch in Niedersachsen war Lewin unterwegs. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er so ganz nebenbei auch ein Gemälde von russischen Regentin Anna Leopoldowna auf der Marienburg bei Hannover, das dort bisher als ein Kunstwerk registriert worden war, das "eine unbekannte Person zeigt". Das Buch "Macht, Intrigen und Verbannung - Welfen und Romanows am russischen Zarenhof des 18. Jahrhundert" ist im Göttinger MatrixMedia Verlag erschienen.

 


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