Presse
Hannoversche Allgemeine Zeitung
Hannovers letzter Herrscher
Wie viel Bitterkeit liegt in diesen Versen, wie viel Hader und Resignation:
"Nacht ist's um mich! Des Lebens süße Gabe / Verbittert mir des Schicksals Tyrannei! / Ich lebe noch und bin doch schon begraben. / Blind oder tot ist ziemlich einerlei", dichtete der junge Kronprinz um 1842. Wenn von Georg V. bis heute etwas in Erinnerung geblieben ist, dann vielleicht, dass er die Marienburg baute - vor allem aber, dass er seit einem Unfall in seiner Kindheit vollständig blind war. Zu seiner Zeit war das ein Politikum. Georg, geboren 1819 in Berlin und aufgewachsen Unter den Linden 2 (etwa dort, wo heute das Hotel Adlon steht), war Sohn von Hannovers König Ernst August. Ob ein Blinder wie er König werden könnte, war höchst umstritten. Juristen und Mediziner lieferten sich wahre Glaubenskriege um diese Frage. Zeitungen im preußischen Köln druckten Pamphlete, die behaupteten, Blindheit führe zwangsläufig auch zu einem geistigen Defekt und überhaupt habe noch nie in Europa ein Blinder einen Thron bestiegen. Sogar Ernst August zweifelte wohl insgeheim, ob sein Sohn regieren könne: Als er 1842 verreiste, übertrug er dem Kronprinzen zwar demonstrativ die Regierungsgeschäfte - doch sogar um die unwichtige "Verordnung gegen die Verbreitung des Rotzes, des Wurms und des Grindes bei den Pferden" kümmerte er sich vom Ausland aus lieber selbst. Dennoch peitschte Ernst August im berühmten Verfassungsstreit ein Grundgesetz durch, das auch Behinderten den Weg auf den Thron ebnete - wie seinem Sohn.
Der Hildesheimer Historiker Alexander Dylong zeichnet in seiner gut lesbaren Biografie "Hannovers letzter Herrscher" jetzt ein differenziertes Bild Georgs. Kennern liefert das Buch kaum neue, bahnbrechende Erkenntnisse. Doch es zeigt fair und anschaulich die verschiedenen Facetten des Königs. So entwickelte Georg einen ausgesprochenen Sensus für Musik. Schon mit 13 Jahren komponierte er erste Stücke. Bald nach seinem Regierungsantritt 1851 wurde Hannovers Opernhaus vollendet, der damals größte Theaterbau Deutschlands.
Hannover wurde zur Hochburg der Musik: Robert und Clara Schumann traten hier auf, und auch der junge Brahms spielte vor dem König. "Dies Hannover ist ein völliges Nest für meine Partituren geworden", schwärmte Wagner, der sogar mit dem Gedanken spielte, seinen "Tristan" hier uraufzuführen. Im Wangenheim-Palais, wo Georg lebte, empfing er Schauspieler und Künstler. Auch sonst pflegte er einen eher bürgerlichen Lebensstil: Seine Frau Marie stillte entgegen alle höfische Konventionen ihre drei Kinder selbst - zum Missfallen von Schwiegervater Ernst August, der ihr während der Stillzeit verwehrte, an der königlichen Tafel zu speisen. Ein romantisch veranlagter, kunstsinniger Monarch, ein Wagner-Freund und Preußenfeind, der besser im Bauen von Märchenschlössern war als im Kriegführen - fast könnte man Georg V. für eine norddeutsche Variante von Bayerns Ludwig II. halten. Gleichwohl zeichneten preußische Historiker später das Schreckensbild eines rückständigen, realitätsblinden Despoten von ihm. Und Dylongs Biografie zeigt auch, warum sie es dabei ziemlich leicht hatten. War König Ernst August erzkonservativ, war sein Sohn reaktionär. Stets misstrauisch, seine Minister könnten ihn, den Blinden, hintergehen, verschliss er sechs Kabinette in 15 Jahren. Er beschnitt die Pressefreiheit, ließ die Opposition bespitzeln und missliebige Richter kurzerhand strafversetzen. Der tiefgläubige Lutheraner Georg hatte zwar eine ökumenische Ader und machte mit Ludwig Windthorst sogar einen Katholiken zum Justizminister. Doch er hegte auch eine geradezu mythische Vorstellung vom eigenen Gottesgnadentum, die schon im 19. Jahrhundert anachronistisch war.
Als verhängnisvoll erwies sich sein ungeschicktes Taktieren im Schicksalsjahr 1866, als Georg in den verhängnisvollen Krieg gegen Preußen schlitterte. Seine Armee behielt zwar in der Schlacht von Langensalza die Oberhand, doch danach fehlte es an Verpflegung und Munition. Einer seiner Heerführer sprach schließlich die denkwürdigen Worte: "Ich darf Eurer Majestät zu diesem glänzenden Siege Glück wünschen; es ist indes der Todestag unserer Armee." Preußen annektierte Hannover, der König musste ins Exil. Auf seinen Thron verzichtete er bis zu seinem Tod 1878 nicht. Stattdessen organisierte er von Österreich aus trotzig den Widerstand gegen die Besatzer. An dieser Stelle hätte Dylongs Biografie ruhig etwas ausführlicher ausfallen können. Denn zum König der Herzen wurde Georg erst, als er sein reales Reich verloren hatte. Viele Untertanen sahen in ihm nun eine Galionsfigur regionaler Identität. Als Opfer von Völkerrechtsbruch und Eroberungskrieg taugte der bedauernswerte König zum Sinnbild für fairen Föderalismus und hannoversche Freiheit. Überall im Land begehrten Hannoveraner gegen die preußischen Herrscher auf, verteilten Flugblätter und übten friedlichen Protest. Die deutsche Geschichte ist nicht reich an solchen Akten des Widerstands gegen die Obrigkeit. Paradoxerweise hat ausgerechnet der reaktionäre Georg in diesem Kapitel einen ehrenvollen Platz gefunden.
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